Rose [rəʊz]

Manchmal sind Bilder alles andere, nur keine Bilder. Manchmal sind sie Musik. Ich denke an Rose, die Konzertpianistin, die frühe Nachbarin im Stadthaus. Jugendjahre der Musik.
Rose war beeindruckt von Frédéric Chopin, dem genialen Romantiker. Sie schätzte ihn als hervorragenden Komponisten, war angetan von seinen Neuerungen im Nutzen der Pedale und dem Fingersatz. Dem Spiel zwischen schwarzweisser Tastatur.
Rose. Das Bild der Klavierspielerin. Wieder rätselhaft versunken – abwesend anwesend. Vielleicht nur konzentriert auf die Melodie der Imagination?
Die Erinnerung – der Klang längst vergangener und schon vergessen geglaubter Zeiten. Rose und Chopin – Musik aus reiner Emotion geboren. Das Bild lässt mich nicht los.

Das Zehntagebuch

An diesem nebligen Morgen blättere ich mit Blick in den Olivengarten in Boccaccios Das Decameron. Die Stimmen des Pfarrers aus Varlongo im Diskurs mit Belcolore über den Wert seines Mantels aus niederländischem Tuche werden durch den WhatsApp Anruf von Schwester Ingeborg unterbrochen. Sie fährt für drei Tage in ihre Freiheit.
Die Frage wie es mir im Welteninnenraum der neuen geopolitischen Rivalitäten gehe, wage ich kaum zu beantworten.
«Vielleicht ein Befinden zwischen Stagnation und Leere? Oder bin ich nur der Inspizient in diesem Theaterstück der Anweisung gibt: “…die Sonne scheint, der Nebel schwindet…”?»
Womit ich nicht gerechnet habe ist ihr herzhaftes Lachen. «Das Zehn-Tage-Werk Decameron? Die Novellen über Liebe, Macht, Verrat, Lust, Verlust? Gratuliere; Weltliteratur! Das seitenstarke Buch zur richtigen Zeit im geschützten Habitat.»
Schwester Ingeborg [Hüterin, Beschützerin] ist Nickname. Wer wird schon in dieser verordneten neuen Welt seine vertraute Liebe verraten.

Die Gardener

Auf den zweiten Blick bestätigt sich mein Vermuten, nicht nur seinem leichten Akzent wegen. Der gross gewachsene Gärtner ist Kanadier. Sein Habitus sendet klare Signale. Sein aufrechter Gang, sein geschickter Baumschnitt am alten Ginko und sein verschmitztes Lachen strahlen Selbstbewusstsein. Das gemusterte Canvas-Hemd trägt er über einer schlammfarbenen Cargo-Hose.
Seine rothaarige Kollegin unterscheidet sich nur im kastanienfarbenen Rollkragenpullover. Sie nutzt lässig den Rechen fürs Laub. Die golden spiralgeformten Farne hinten bleiben stehen.
Die zwei Gardener gehen kultiviert miteinander um. Eins und Eins in perfekter Harmonie?
Wie sich herausstellt ist Redhair (wie ich sie in Gedanken nenne) Akademikerin, aus Syrien geflüchtet. Welches Schicksal sie wohl erleben musste, Mauern brechen, Wege suchen aus der Heimat?
Mein Freund, der Gutsbesitzer, erzählt Monate später, wieder beim Teegebäck im Wintergarten, Redhair und Canvas-Mann sind ins freie Land gewandert. Sie waren ein Paar. Ich gestehe, ich musste schon beim ersten Sehen an Rosamunde Pilcher denken.

Vertraute Stimmen

Draussen liegt Schnee. Wir sprechen über Konzepte. Token, Time Cells. Seine aktuellen Projekte sind komplex. Vernetzte Themen. Das Verstehen muss ich überdenken. Es sind fremde und doch vertraute Dinge. Ein Label mit Historie in der digitalen Welt – Dubois et Fils. Gespräche mit dem Mann von Nomads of Time. Das Gespür für den Umgang mit Menschen ist die Quelle des Erfolgs. Das Vertrauen sitzt tief.
Wenn wir reden sind es helle Tage. Humus.
«Was vermisst du in dieser abgekapselten kalten Zeit?» «Die Kultur, die Reise über den Wolken. Die Treppen ins Mumok, den Café, draussen im Corbaci. Die warme Stimme der Frau, die ich dort sehe und aus den Augen verliere.» Freunde im Raum. Nichts wirkt inszeniert.

Alles schön geregelt

Der schwach sichtbare Zaunpfahl lässt vermuten – ich laufe nicht im freien Land, dort, wo der Waldweg vom fallenden Laub bedeckt. Vielleicht grasen Schafe hinter dem Waldvorhang? Und vom Bach schöpft weit in der Ferne aussichtsreich ein einsam stehender Aussiedlerhof?
Ich treffe Chanel – sie springt mir entgegen, leinenlos. Typ Border Colli, ein Hüte- und Treibhund aus dem Bildbruch.
Der Robidog am Ende des gepflegten Weges steht für die Hundeherde. Alles schön sauber hier. Selbst die dörren Blätter sammeln sich konform im Scheibenwischerkanal. Hier geschieht nichts, was verboten ist.
Die adrette Leinenträgerin amüsiert sich über Ihre Tochter – „…sie sammelt die farbigen Dispenser-Tütchen. Die aus Japan fehlen ihr noch.“
Ausserhalb vom gleichgesinnten Waldstück atmen städtisch Menschen, die sonntags keinen Kater kennen.

Augenblicke

Durch das Lächeln der Liebenswürdigkeit blitzt die Kälte für einen Augenblick wie ein Reflex. Erste Porträts seit Monaten.
Es gibt einen Augenblick, wenn alles Alte neu entsteht – die Wärme sichtbar bleibt und im Nirgendwo überlebt. Alles, was ich festhalte, scheint sich aufzulösen.
Vielleicht ist’s der Luxus der Synästhesie. Diese Spielart der Evolution, die dem Bewusstsein ein Verknüpfen der Sinne erlaubt. Das Einschalten des Empfindens generiert mehr Information – das Verbinden der Sicht: Der Geruch des kalten Blicks – der Duft des liebevollen warmen Herzens. Die Magie des Bildes.
Ich denke an Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Die verschmelzenden Themenkreise Wirklichkeit, Identität, das Leben in der grossen Stadt. Malte, der genaue Beobachter. Die fingierte Figur. Malte, im Reifeprozess in der Metropole.
Ich lerne immer noch zu sehen. Die Sinneswahrnehmung ist zentrales Motiv der Aufzeichnung. Die Kamera hat einmal versagt, im Café Corbaci. Wien. Freezing – bei einem gestohlenen Porträt. Das Reset brachte sie zur Vernunft. Die Liebe bleibt.
Nun neue Augenblicke down town, sie dauern oft ewig. Ich wende mich ab, sehe wieder hin, aber da sind sie nicht mehr.

Wo bist Du?

Der Regionalzug rattert in den nahen Sommer. Eine zerquetschte Motte klebt noch im Lesestoff. Dünnseitig, gerade passend für eine Vier-Stundenfahrt. Zeilen voller Sehnsucht – über die Frau, die berühren möchte, um nicht vermisst zu sein. Über den Mann, der den Tumor besiegen will, rasend vor Wut, Verpasstes versäumt zu haben. Den Körper wieder fordert bis zum Runners-High. Nochmals Starten zum neuen Leben. Sich endlich spüren. Ehrlich Sein. Nochmals versuchen. Die Frau, der Mann – werden sie’s schaffen, die Reise zum Glück?
Das schmale Buch voller Schicksale besser zur Seite legen. Eigene Gedanken finden, inspirieren lassen – auf den Schienen zum weiten Ziel. Schnelle Bilder, verschwommene Farben. Aquarelle zur Meditation. Leben im Jetzt.
Der Duft von Molecule 01 liegt in der Luft – verdrängt den rostenden Eisengeruch. Sie huscht vorbei, die junge Frau mit Dutt, im prallen Dirndl. Oder ist es der alternde Geck, der das Zugabteil kurz zum Genuss beduftet?
Wieder dem Fenster zuwenden. Bilder erjagen. Bis nach Bavaria. Glückliche Tage. Morgen wieder Zurückfahren, dem Bodensee entlang. Gedankenverloren Bilder finden. An mich denken. Und an Dich. Wo bist Du?